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Zieeeeeeeh – die Schlierseer Skiadler und ihre Schanzen

Wirft man einen Blick auf die Karte von Schliersee, auf der ich alle Standorte der noch bekannten Schanzen im Ort markiert habe, lässt sich bereits erahnen, welchen Stellenwert das Skispringen einst in der Marktgemeinde besaß. Mindestens neun Schanzen gab es in Schliersee, Neuhaus und am Spitzingsee. Ich treffe mich mit Georg Attlfellner, dem ehemaligen Vorstand und jetzigem Ehrenvorsitzenden des SC Schliersee, Jürgen Koschyk, dem langjährigen Vorstand der Skizunft Neuhaus, sowie den größten Skisprungtalenten des Ortes, Horst Möhwald, Kurt Jiptner und Peter Dubb, und lasse mich durch deren Erzählungen in die Welt des Schlierseer Skisprungzirkus der 1920er- bis 1970er-Jahre entführen.

Georg Attlfellner blättert in seinem dicken Fotoalbum voller bereits vergilbter Fotos und Zeitungsausschnitte und erzählt mir, dass die vermutlich erste Schanze der Gemeinde um 1920 in Fischhausen gebaut wurde. Die Gulbranson-Schanze, benannt nach ihrem Erbauer Olaf Gulbranson, ließ Sprungweiten von über 20 Metern zu und war im Februar 1924 Austragungsort eines Schauspringens zur Finanzierung einer in Schliersee geplanten Schanze. Ein Zeitungsartikel vom 25. Februar 1924 berichtet ausführlich und voll des Lobes über die Veranstaltung.

Und so konnte kurz darauf mit dem Bau der neuen Schanze am Leitnerhügel in Schliersee begonnen werden, eine der „schönsten und größten von Deutschland“, wie in einem weiteren Zeitungsartikel beschrieben wird. Der Norweger Jens Jäger, der 1922 für den SC Schliersee Bayerischer Meister in der Nordischen Kombination wurde, plante und baute die Schanze nach dem Vorbild am norwegischen Solberg bei Bärum. Am 22. Februar 1925 eröffnete der Namensgeber der Jens-Jäger-Schanze das internationale Springen mit 50 Teilnehmern vor einer beeindruckenden Zuschauerkulisse.

Bis etwa Mitte der 1960er-Jahre wurden auf dieser Schanze, die Sprünge von über 50 Metern ermöglichte, zahlreiche Springen abgehalten. Besonders beliebt waren die Nachtspringen, die ab den 1950er-Jahren durch die Installation der wahrscheinlich ersten Beleuchtungsanlage an einer Sprungschanze im Landkreis ermöglicht wurden. Der Skiclub Schliersee war seinerzeit mit etwa zehn aktiven Springern gut aufgestellt und konnte 1949 mit dem Sieg von Peter Kogler bei der Jugendmeisterschaft im Sprunglauf einen weiteren beachtlichen Erfolg verbuchen. Neben diesen beiden großen Schanzen gab es noch mehrere kleine aus Schnee aufgeschüttete Schanzen, die vor allem zum Training genutzt wurden.

Um 1948 wurde im Josefstal die Toni-Huber-Schanze errichtet. Namensgeber war der Gründer der Skizunft Neuhaus, Toni Huber, wegen seiner schmalen Statur auch „Haxn-Toni“ genannt, wie mir Horst Möhwald mit einem Augenzwinkern erklärt. Gespannt lausche ich den Erzählungen des Mannes, der über Jahre einer der besten Nordischen Kombinierer Deutschlands war. Seine Karriere krönte er mit der Teilnahme an den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck, wo er einen beachtlichen 17. Platz errang. Mehrere Jahre leitete er am Spitzingsee das Spitzinghaus, ein Erholungsheim der Bundeswehr, und baute sich nur wenige Meter entfernt eine spektakuläre private Trainingsschanze. Mit bis zu 30 Meter weiten Sätzen sprang Horst Möhwald über die an der Schanze vorbeiführende Straße.

Am Spitzingsee gab es außerdem noch mindestens zwei weitere Schanzen. Die Valepper Schanze, etwas südlich der Albert-Link-Hütte, mit einem Kalkulationspunkt von 25 Metern, sowie die Totenschanze, eine am Kurvenlift steil im Hang gelegene Schanze, die auch von alpinen Rennläufern zum Sprungtraining genutzt wurde und laut Horst Möhwald bis etwa 50 Meter gut zu springen war. Ob die Schanze ihren Namen tatsächlich wegen eines tödlichen Unfalls erhalten hat, bleibt letztlich ungeklärt.

Auch im Josefstal sind weitere drei Schanzen bekannt: die Acherschanze, eine reine Schneeschanze, die jedes Jahr aufs Neue etwa 150 Meter südlich der Toni-Huber-Schanze gebaut wurde und der Skizunft Neuhaus als Austragungsstätte der Vereinsmeisterschaften und zum Warmspringen für die große Schanze diente. Der weiteste gemessene Sprung lag bei 17,5 Metern. Im Wald an der Aurachstraße stand die Zackeschanze, die ebenfalls für die Clubmeisterschaften der Skizunft genutzt wurde und Sprungweiten über 20 Meter ermöglichte, wohingegen die Schrön-Schanze, eine Schneeschanze am Kameterbichl mit Sprungweiten um die 25 Meter, rein zu Trainingszwecken errichtet wurde.

Anfang der 1960er-Jahre wurde dann der Schanzenturm der Toni-Huber-Schanze kurz hintereinander zweimal umgebaut und vergrößert. Unter der Federführung von Horst Möhwald, Kurt Jiptner, Rudi Wolf und Rainer Schrön entstand um 1962 die endgültige Konstruktion mit einer Schanzenturmhöhe von rund elf Metern, wie Jürgen Koschyk und Kurt Jiptner, 1965 bayerischer Juniorenmeister und Drittplatzierter bei den Deutschen Meisterschaften in der Nordischen Kombination, zu berichten wissen.

Eine Gruppe von etwa zwölf Skizunftlern schleppte an zwei bis drei aufeinanderfolgenden Wochenenden ausrangierte Telefon- und Strommasten, unzählige Bretter und Werkzeuge zu Fuß über einen Waldweg bis zur Schanze und errichtete den Sprungturm mit reiner Muskelkraft. Besonders die große Erfahrung und das Fachwissen von Horst Möhwald als Skispringer und Zimmermann trugen zum Gelingen des Vorhabens bei. Er war auch der Erste, der vom Bakken musste, um die neue Anlage zu testen.

Aber nicht nur der Bau einer solchen Anlage, auch die Vorbereitungen und das Springen selbst waren damals mitunter eine recht schweißtreibende Angelegenheit. Die Präparation der Schanzen war aufwendig und reine Hand- oder vielmehr Fußarbeit. Der Schnee im Auslauf musste mit Skiern festgetreten werden, und je nach Wetterlage war es manchmal nötig, Schnee in Flechtkörben zusammenzutragen, um für eine ausreichende Unterlage zu sorgen. Die Springer gelangten mitsamt den weit über zwei Meter langen Sprungski per pedes auf den Sprunghügel und mussten anschließend noch den Sprungturm über Holzleitern erklimmen. Außerdem gab es noch keine Anlaufschienen, wodurch der Anlauf für die Springer schwieriger war als heute, weil sie die langen Ski aus eigener Kraft parallel halten mussten, erklärt mir Peter Dubb, der im Laufe seiner Karriere zweifacher Bayerischer Jugendmeister, 1973 Deutscher Vizemeister auf der Normalschanze, 1974 Deutscher Meister auf der Normalschanze und Dritter auf der Großschanze wurde. Außerdem nahm er, ebenfalls 1974, an der Weltmeisterschaft teil ‒ sowie insgesamt fünfmal an der legendären Vierschanzentournee.

Die Ski waren noch aus Holz gefertigt, was zur Folge hatte, dass sich das Material vor allem bei feuchten Schneebedingungen schnell vollsaugte und sich die Gleiteigenschaften drastisch verschlechterten. So wurden teils recht kreative Skibeläge ausprobiert, angefangen von Kerzenwachs über geschmolzene Schellackplatten bis hin zu Karbolineum, wie mir Jürgen Koschyk, Kurt Jiptner und Horst Möhwald mit einem Schmunzeln berichten.

Bis 1977 war die Toni-Huber-Schanze Austragungsort zahlreicher Bewerbe, unter anderem Pokalspringen, Gau-Oberland-Meisterschaften und Nachtspringen. Letztere waren Dank der ca. 1964 nachgerüsteten Beleuchtung möglich geworden und lockten oftmals mehrere Hundert Zuschauer an die Schanze. Mit mehr als 15 aktiven Springern war die Skizunft Neuhaus zahlenmäßig stark aufgestellt. Peter Dubb, der erfolgreichste unter ihnen, hält mit 48,5 Metern den offiziellen Schanzenrekord auf der Toni-Huber-Schanze. Allerdings könne er sich an Trainingssprünge erinnern, die deutlich über die 50-Meter-Marke hinausgingen.

Bis in die 1970er-Jahre war das Skispringen ein Volkssport, fast in jedem Ort wurden kleinere und größere Schanzen gebaut. Jeder, der genug Mumm hatte, stürzte sich hinunter. Heute sind die Schanzen zum Großteil abgebaut, die Überreste verfallen und wachsen zu. Die Gründe dafür sind wohl hauptsächlich das schwindende Interesse bei der Jugend und fehlende „Kümmerer“, wie sie Dubb nennt, die für die zeitaufwendige Präparation und die Instandhaltung der Anlagen sorgen. Umso wichtiger ist es deshalb, diese Glanzzeit des nordischen Skisports in Schliersee zumindest mithilfe der Zeitungsberichte, Fotos und Erinnerungen lebendig zu halten.

 

Kathrin Zott

Aufgewachsen und noch immer wohnhaft in Neuhaus am Schliersee, zweifache Mama, studierte Germanistin und Musikpädagogin, freiberufliche Lektorin und Korrektorin – mit anderen Worten: heimatverbundene, musikbegeisterte, kreative, tierliebe und vor allem komplett italienverrückte Leseratte.